Dienstag, 7. Mai 2019

Das Grosse Hexenkraut Circaea lutetiana

Erblickt man Ihre Blüten, so weiss man, dass man sich im Wald verirrt hat. So zumindestens beschreibt der deutsche Volksglaube eine Pflanze, die "in schattigen, dunklen und feuchten Wäldern entlegene Stellen bevorzugt". Im heutigen Botanischen Garten des CID Institutes trifft diese ökobotanische Charakterisierung sogar zu. Im Schatten der niemals sonnenbeschienenen Nordseite des CID Institutsgebäudes, versteckt zwischen grossen Farnwedeln, findet wohl niemand die zarten Blütenrispen der möglicherweise wichtigsten aber zugleich auch unauffälligsten Pflanze, die sich noch zu Lebzeiten der Gartengründerin hier neu angesiedelt haben muss.

Ob Circaea lutetiana das "Kraut Grosser Hexen" ist, oder ob dieser deutsche Pflanzen-Name zur Unterscheidung von anderen, kleinwüchsigeren Hexenkräutern gewählt ist - je nach Standort kann diese Art eine Triebspitzenhöhe von bis zu 60 Zentimetern erreichen - wird auch auf den zweiten Blick hin nicht deutlich. Doch "verirrt im Walde", zumindestens im eigentlichen Sinne dieses Begriffes, hat man sich an ihrem hiesigen Wuchsort eigentlich noch nicht, denn beim Blick zurück zum Eingang des Gartens befindet man sich nur wenige Schritte abseits der Hauseingangstüre. 



Die Blüten des Grossen Hexenkrautes Circea lutetiana


Nimmt man sich aber Zeit und Musse, die Pflanze aus nächster Nähe in Ruhe zu betrachten, so verzaubert tatsächlich der Anblick ihrer zarten Blüten denjenigen, der sich von ihr in ihren Bann ziehen lässt. Somit trägt sie ihren Namen also zurecht, denn heilendes Verzaubern war und ist wohl seit Anbeginn der Menschheit die Kraft und Kunst sowohl grosser als auch kleiner Hexen.

Damit ist aber auch schon der Punkt erreicht, an dem sich Heilkunst und wissenschaftliche Pflanzenanalyse in Kontradiktion begeben, denn heilende Kräfte und weibliche Heilkunst beruhen insbesondere auf "Verzauberung" und Mystizismus, während biosystematische Pflanzenbeschreibung eher die administrative und in Schubladen einordnende Entzauberung der mit Pflanzen verbundenen Mystik betreibt.

Die Heilkraft von Circaea lutetiana beruht nach allgemeiner Einschätzung wohl hauptsächlich auf Phantasien. Die zu den Nachtkerzengewächsen (Onagraceae) gestellte Pflanze ist keine eigentliche Medizinalpflanze, auch wenn Erwähnungen existieren, dass das Grosse Hexenkraut in der Volksheilkunde in der Wundbehandlung Verwendung findet und ihm schwach blutstillende (adstringierende) und harntreibende Wirkung zugeschrieben wird. Dabei wirksame Pflanzeninhaltsstoffe sind möglicherweise Gerbstoffe, Oxalate oder Oxalsäure, die ein "Zusammenziehen" der Hautoberfläche bei Verletzungen bewirken könnten. Auch in der Bachblüten-Therapie findet die Pflanze als Heilmittel Verwendung und wird dabei als "Konfliktlösend" beschrieben.



Früchte und Blätter des Grossen Hexenkrautes.
Aus letzteren können Heil-Tees zubereitet werden.


Weitaus stärkere und weitreichendere Wirkungen bewegen allerdings die Phantasien, die mit dem Pflanzen-Namen verbunden sind, wobei hier sowohl die historisch unaufgeklärte Uneindeutigkeit des Namensursprunges als auch wissenschaftshistorisch bedingte Namensverwechslungen die Träger des die Pflanze umrankenden Mystizismus sind, der ihr zweifellos auch heute noch phänomenale Zauberkräfte verleiht. 

Zuerst zu den wissenschaftlichen Uneindeutigkeiten. Der heutzutage verwendete lateinische Gattungsname Circaea findet bereits bei Leonhart Fuchs Verwendung, der in seinem New Kreuterbuch im Jahre 1543 diese aus der griechischen Sprache stammende Bezeichnung synonym für die ALRAUNE (Mandragora officinalis) verwendet, eine berühmte Medizinal-, Zauber- und Hexenpflanze, die ebenso in griechisch als Anthropomorphos und im Lateinischen als Mandragora bzw. Canina bezeichnet ist und mit "Zeremonien des Teufels" in Verbindung gebracht wird, vor welchen sich "Buben zu hüten hätten".   

Verwechslungspotential bietet bei Leonhart Fuchs allerdings die Nummerierung seines Katalogeintrages "Von Alraun" unter Registernummer Cap. CCI (201), was in seiner Abbildungskatalogisierung von Circaea unter Nr. 201 allerdings dann der ZEITLOSEN (Colchicum autumnale) entspricht, einer nicht minder gefürchteten, angeblichen Giftpflanze, die dem Safran-Lieferanten CROCUS stark ähnelt und auch heute noch Bekämpfungsbemühungen von Forstamtsmitarbeitern in Naturschutzgebieten auslöst. 

Ein Teil der Mystik des Grossen Hexenkrautes mag somit durch die nomenklatorische bzw. katalogisierende Verknüpfung seines später (1753-1768) durch Carl von Linné zugeordneten, wissenschaftlichen Artnamens mit den Leonhart Fuchs bekannten Symbolpflanzen Alraune und Herbstzeitlose begründet sein. 


Samenkapseln des Grossen Hexenkrautes tragen borstige Widerhaken (Klettfrüchte), was zur Ausbreitung der Pflanze beitragen soll.
An ihren Standorten vermehrt sie sich aber insbesondere durch Wurzelrhizome, deren unteridische Geflechte sich beständig ausdehnen.



Im gesamten europäischen Sprachraum ist den Trivialnamen von Circaea lutetiana eindeutig eine Bedeutung zugeordnet, welche die Pflanze in Verbindung mit Verzauberung, Magie und Hexen setzt :

Französisch : Herbe aux Sorcieres (Kraut der Hexen)

Englisch : Broad-leaved Enchanter´s Nightshade (Breitblättriger Nachtschatten der Verzauberer)

Spanisch : Hierba de los Encantos, Hierba de San Simon (Kraut der Verzauberungen, St. Simons Kraut)

Holland : Groot Heksenkruid (Grosses Hexenkraut)

Serbokroatisch : Vidmine Zilla Zvicayne (Gewöhnlicher Hexentrank)

Russisch : Koldúnitsa Parizhskaya (Pariser Zauberin)

Deutsch : Grosses Hexenkraut, Irrkraut, Walpurgiskraut, Waldklette, Stephanskraut

Dänisch : Dunet Steffensurt (Stephans-Bitter)

Rumänisch : Tiliscá


Der wissenschaftliche botanische Gattungs- und Artname der Pflanze in lateinischer Sprache Circaea lutetiana findet nun seine äquivalenteste Übersetzung  im Russischen, wo das Grosse Hexenkraut "Die Zauberin aus Paris"  genannt wird. Lutetiana leitet sich vom ursprünglichen Namen der Siedlung LUTETIA auf der Ile de la Cité im Fluss SEINE ab, auf welchem heute das historische Zentrum der französischen Hauptstadt PARIS erbaut ist. Der Name Circea erlaubt einen unverwechselbaren Bezug zur wohl berühmtesten Frauengestalt der europäischen Geschichte, der Zauberin Circe, die auf der beinahe kreisrunden Insel AIAIE im Mittelmeer lebt, zumindestens wenn man den Studien über die Geschichtsschreibung der griechischen Mythologie folgt, welcher - man mag es glauben oder nicht - massgeblicher Einfluss auf die auch heute noch gültigen Phantasien der modernen Europäer zugeschrieben wird. 

Circe ist die Namensgeberin des deutschen Begriffes "Bezirzen", was gleichbedeutend mit der zumeist Frauen zugeordneten Fähigkeit ist, Menschen und Tiere verzaubernd und verführend in Bann zu nehmen, so dass sich diese dem Willen der Meisterin unterordnen. Circe verkörpert diese Fähigkeit zuerst durch ihren Kontakt mit der sie umgebenden Natur. Auf ihrer Insel Aiaie lebt sie in einem Walde umgeben von wilden und teilweise furchterregenden Tieren, die aber weder ihr gegenüber noch untereinander oder gegenüber Besuchern feindseelig auftreten.



Darstellungen der Zauberin Circe in der Malerei


Alleine auf einer mystischen Insel, geschützt von ihrem Wald und ihren Tieren und offen für wechselnde Besucher, mit welchen sie auch ihr Bett zu teilen verstand, nähert sich die Beschreibung von Circe´s Insel dem ersehnten Zustand des biblischen Paradieses, wobei Circe´s Lebensmodell verglichen mit dem biblischen Konzept sogar überlegen wirkt, denn es kommt gut ohne Ehemann Adam, die Hinterlistigkeit der verführenden Schlange und den den Ehebruch strafenden Gott aus. Damit dürfte die Existenz von Aiaie die Erklärung für die Entstehung der kontinentalen Schifffahrt und sämtlicher Mittelmeer-Exkursionen geworden sein, ähnlich wie bereits die Suche nach dem Paradies die Kreuzritter schon zu unglaublichen Strapazen motiviert hatte. Circe wird dabei zu einer Meisterin des "ANIME", des sinnlichen Lebens im harmonischen Einklang mit allen Wesen der Natur und ihrer Umgebung, wobei sie ihre Dominanz und Überlegenheit mit Hilfe ihrer Kenntnisse der Ethnobotanik bewahrt, während ihre männlichen Besucher waffenstarrend und in grösseren Gruppen den Landgang auf Aiaie antraten, wie zumindestens eine der detailliertesten mythologischen Beschreibungen ihrer Existenz in der "Odyssee" nahelegt. 

Das Männer sich in sie verlieben und sie begehren, ist wohl im Charme und der erotischen Körperlichkeit der Zauberin Circe begründet. Die notwendige Distanz und den Respekt ihrer Verehrer stellt sie dabei durch die Verwendung von psychoaktiven Heilkräutern sicher, die sie in Tränke mischt, welche ihre Besucher bei der Begrüssung akzeptieren und zu sich nehmen müssen. Mittels dieser Zaubertränke und begleitender Magie gelingt es ihr, die Situationskontrolle und den notwendigen Abstand zu wahren, wobei der Kräutertrank die Männer metaphorisch "verwandelt". In historischen Beschreibungen werden diese dabei zu Tieren, wobei dieser Wandlungszustand allerdings reversibel bleibt. Künstlerische Interpretationen aus der religiösen Malerei plakatieren diese temporäre Metamorphose insofern, dass sie die verwandelten Männer als Schweineherde darstellen, während allerdings die historischen Beschreibungen dahin gehen, dass die Verzauberten "Schweinefutter zu sich nehmen und in Koben übernachten mussten".

Eine weitere historische Beschreibung der Circe erwähnt allerdings auch, dass Circe Zaubertränke mischte, um ihre eigenen Liebesinteressen durchzusetzen. So bat die Sagengestalt Glaukos sie darum, einen Zaubertrank zuzubereiten, der die von ihm angebetete Meerjungfrau Skylla in ihn verliebt machen würde. Da Circe aber selbst in diesen verliebt war, goss sie einen von ihr zubereiteten Trank in die Bucht, in welcher Skylla vermutlich in Gestalt einer Nixe lebte, so dass diese sich in ein Seefahrer-fressendes Meeresungeheuer verwandelte.


Künstlerische Darstellungen der Zaubertränke aus Kräutermischungen anwendenden Circe


Verwunderlich wäre, wenn nicht versucht worden wäre, die exakte Lage von Circes Insel Aiaie wissenschaftlich zu ergründen. Dies gelang vermutlich dann auch deshalb, weil Ortsangaben in der Odyssee eine Interpolation ihrer Koordinaten möglich machten. So liegt Aiaie beispielsweise "1 Tagesreise per Segelschiff vom Eingang in die Unterwelt Hades entfernt" während Skyllas Wirkungsort in der Strasse von Messina zwischen Sizilien und Italien liegen soll. Forscher kamen daher zu der Schlussfolgerung, dass Aiaie mit der Insel USTICA nördlich Palermo identisch sein müsste, was darauf hindeutet, dass der Zugang zur Unterwelt vermutlich über den Einstieg in einen aktiven Vulkan erfolgt. Damit könnten eigentlich nur die Vulkane Ätna auf Sizilien oder Stromboli auf den Aeolischen Inseln gemeint sein. Beide sind von USTICA etwa eine Tagesreise per Segelschiff entfernt.




Lage und Ansicht der Insel Ustica
die nach Vorstellungen von Geschichtsforschern identisch mit Circe´s Insel Aiaie sein könnte



Verbreitungsangaben zu Folge wächst das Grosse Hexenkraut Circaea lutetiana in ganz Europa mit Ausnahme Islands und Finnlands, im nördlichen Afrika und in Kleinasien - also auch in der gesamten, circummediterranen Region - und damit möglicherweise auch auf Aiaie bzw. Ustica. Desweiteren dehnt sich das Verbreitungsareal über das boreale Westasien und Sibirien bis zum Himalaya aus. 

Es wäre allerdings zu kurz gefasst und zudem auch zu banal, aus der potentiellen Existenz der Pflanze auf der Insel Aiaie auch daraus zu schliessen, dass es sich beim Grossen Hexenkraut um die magische Zauberpflanze gehandelt haben könnte, die Circe in ihren Zaubertrank mischte, mit dessen Wirkung sie dann die Männer des Odysseus "in Schweine verwandelt habe", vorübergehend zumindestens. 

Auch die eigenen Beobachtungen des CID Institutes im Botanischen Institutsgarten, dem ehemaligen Hausgarten der Instituts-Mäzenin Rosemarie Zanger, sind noch zu rudimentär, um schon Schlussfolgerungen über vermutete psychoaktive Wirkungen dieser Pflanze aus den wenigen bisher durchgeführten Studien abzuleiten. Im Herbst 2019 waren einige Wurzelrhizome vom ursprünglichen Wuchsort an der Hausnordseite entnommen und in den noch schattigeren und trockneren Hauseingangsgarten in unmittelbarer Nähe des Haustreppenaufganges umgepflanzt worden, wo sie auch Mitte Juli 2020 aufblühten und im September 2020 Früchte entwickelten. Von den beiden Standorten direkt vor und direkt nach dem Haustreppenaufgang ist in 2021 aber nur noch der ursprüngliche Wuchsort übrig geblieben. 

Ob sich zwischen den beiden Wuchsplätzen, also im Bereich der Haustüre, Männer in Schweine verwandeln, bliebe allerdings noch wissenschaftlich zu überprüfen.












Dipl.. Biol. Peter Zanger

30. Juni 2021



   

Montag, 6. Mai 2019

Pulmonaria officinalis BORAGINACEAE - Lungenkraut

Das Lungenkraut Pulmonaria officinalis, eine interessante Heilpflanze im Botanischen Gartens des CID Institutes

Dipl Biol. Peter Ulrich Zanger

6. Mai 2019

Ein Beitrag zur Schriftenreihe Naturkundliche Notizen III (seit 25. Juni 2018)




Von Pflanzen, denen eine Heilwirkung zugeschrieben wird, erwartet man im Allgemeinen, dass sie eindeutig zu identifizieren beziehungsweise bestimmbar und damit exakt einer biosystematischen Gattung und Art zuzuordnen sind, denn nach heute etablierter Vorstellung sind die biochemischen Komponenten und damit die extrahierbaren Wirkstoffe massgeblich für die sichere Effektivität des daraus herzustellenden Phyto-Medikamentes. Diese Sichtweise beinhaltet jedoch eine Reduktion des hochkomplexen Wirkmechanismus der biomedizinischen Heilkräfte, die sich zwischen menschlichen Gesundheitsphilosophien, die im historischen Zeitverlauf enormen Wandlungen unterworfen sind und den tatsächlich heilenden Kapazitäten vieler Pflanzenarten, welche wiederum über Jahrtausende hinweg unverändert Bestand haben, in Form von Medizin-Mythologien spannen. Ursache dieser Reduktion ist die heute verbreitete Phantasie, jeder medizinischen Wirkung im menschlichen Körper sei eine chemische Substanz zuzuordnen. 

Betrachtet man aber die historische, parallele Entwicklung von moderner Medizin, Hömeopathie und den sehr unterschiedlichen Lehren der Naturheilkunden (z.B. Ying-Yang-Theorie, Fünf-Elemente-Lehre, ...), so findet man aber unzählige Konzepte wie beispielsweise die Signaturen-Lehre oder die Sympathetische Magie, letztere auch Analogiezauber oder Sympathiezauber genannt, die zweifellos in Teilbereichen der Erklärungsmodelle auch heute noch zutreffend sind, sich aber diametral von der heute weit etablierten Medikamentenchemie-Theorie unterscheiden. 

Aus der Verknüpfung von Psychologie, Heilkunde und Farblehre weiss fast jeder Mensch bzw. hat fast jeder Mensch während seines Lebens die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Farbtöne positiv emotional stimulierend sind und sich damit gesundheitsfördernd auf das Allgemeinbefinden auswirken, was mit dem Terminus der "Steigerung der Abwehrkräfte" beschrieben wird. Kombiniert man diesen simplen Erfahrungsschatz mit der botanischen Biosystematik, so wird man bald entdecken, dass Heilpflanzen beispielsweise oft gelbfarbige Blüten tragen, so dass man sich die Frage stellt, ob die der Pflanze zugeschriebene Heilwirkung mit ihren chemischen Inhaltsstoffen oder mit ihrer auf die Farbe der Sonne bzw. der symbolischen Verkörperung des prinzipiell als heilend und stimulierend empfundenen Sonnenlichtes in Verbindung steht. In solchen Fällen würde eine Heilwirkung wohl mehr im Sinne der psychotherapeutischen "Übertragungs-Technik" interpretierbar sein als dass sie bestimmten Pflanzeninhaltsstoffen zuzuordnen wäre.

Warum ist also nun das Lungenkraut eine Heilpflanze und ist das Lungenkraut überhaupt das Lungenkraut ?


Unscheinbar Blau, Rosa und Lila blühendes Echtes Lungenkraut Pulmonaria officinalis 
neben der Haselwurz Asarum europaeum  im Botanischen Garten des CID Institutes am Anfang des Monates Mai


Kaum zu glauben, eine solche In-Frage-Stellung durch einen Biologen, doch nur auf den ersten Blick hin lässt sich im Rahmen des grösseren historischen Gesamtkomplexes hier eindeutig und zweifellos die Antwort "Ja" geben. So sind selbst für Laien die mit Phantasie etwas herzförmigen, lanzettlich-zugespitzten, opak-grünen, Borretschgewächs-behaarten und mit silbrig-hellen Tupfen versehenen Blätter in Kombination mit den lila-rosa Blüten sofort ein sicheres und unverwechselbares Bestimmungsmerkmal für das Lungenkraut. Doch ähneln die Blätter der in Deutschland oft als Geflecktes Lungenkraut und Pulmonaria officinalis bezeichneten Pflanze sehr stark der im mediterranen Raum verbreiteten Schwesterart Pulmonaria saccharata, (Bethlehem Lungwort, Bethlehem Salbei), welche umgangssprachlich ebenfalls als Geflecktes Lungenkraut tituliert wird, so dass die hier betrachtete Form bzw. Spezies eigentlich besser als Echtes Lungenkraut zu bezeichnen wäre, um Verwechslungen zu vermeiden.

Doch noch ein weiteres Element der Nomenklaturgeschichte ist der vermutlich triftigere Grund für einen gewissen Verwirrungsmythos, der sich um das heutige deutsche Lungekraut rankt. Einige aktuelle Publikationen zu dieser Pflanzenart gehen davon aus, dass die Benennung des hier betrachteten Heilkrautes auf den Botaniker und Mediziner Leonhart Fuchs, Verfasser des 1543 in Basel erschienenen "New Kraüterbuch", zurückzuführen ist, was auch nicht gänzlich falsch ist, denn tatsächlich beschreibt dieser in Kapitel CCXLV seines monumentalen und handkolorierten Werkes eine von ihm Pulmonaria benannte Pflanze, welcher er den deutschen Namen Lungenkraut zuordnet und welcher er Heilwirkungen bei Lungenerkrankungen, Verdauungsstörungen und äusseren Wundbehandlungen zuschreibt. 



Beschreibung der Heilpflanze Lungenkraut Pulmonaria im New Kreüterbuch von Leonhart Fuchs, Basel 1543
Kraft und Wirkung
 "Das Lungenkraut gedörrt und ein Pulver daraus gemacht / eingenommen heilet die "Geschwaer" der Lungen treffiglich. Gedachts Pulver in die anderen Wunden gestreut / heilet dieselbigen. Es ist auch ohne Zweifel gut in Wein eingenommen für das Blut-Speien / für den langwierigen Bauchfluss / und den Frauen die zuviel fliessen. Das Lungenkraut übergelegt / ist nützlich den frischen wie zunehmenden Beulen. Aber denen die vollkommen gewachsen sind / ist es schädlich. Die Hirten geben dies Kraut mit Salz vermischt dem Vieh und Schafen / so sie husten / und ein böse Lungen haben".


Betrachtet man aber die dem Kapitel zugeordnete Illustration, so sieht man auf den ersten Blick, das das Fuchs´sche Lungenkraut und das heutige Lungenkraut mit dem Gattungsnamen Pulmonaria wenig miteinander gemein haben. Die Form der abgebildeten Pflanze ähnelt nämlich eindeutig einer Flechte (Lichen) und tatsächlich handelt es sich bei der Lungenkraut-Heilpflanze aus dem New Kreüterbuch auch um eine solche Pilz-Algen-Symbiose-Pflanze, nämlich um Lobaria pulmonaria, der früher weitverbreitet in Deutschland an Eichenstämmen wachsenden und heute mit Ausnahme alpiner Höhenlagen als ausgestorben geltenden Echten Lungenflechte, einer gegen Luftverschmutzung hypersensiblen Pflanze.


Abbildung der Heilpflanze  Lungenkraut Pulmonaria im New Kreüterbuch von Leonhart Fuchs, Basel 1543, die allerdings die Echte Lungenflechte Lobaria pulmonaria darstellt und nicht das Echte Lungenkraut Pulmonaria officinalis.



Bemühungen, die Natur zu untersuchen, kennenzulernen, zu verstehen und dem Menschen nutzbar zu machen fanden jederzeit parallel in allen Weltregionen und Bildungsschichten statt, so dass sich zeitgleich parallel die unterschiedlichsten Benennungen für ein und dieselbe Pflanze entwickelt haben und ebenso ein und derselbe Name je nach Ort, Region, Land, Dialekt und Sprache für dutzende oder gar hunderte unterschiedlicher Kräuter verwendet wurde. Das aus dem lateinischen stammende Wort pulmonem (Lunge) dürfte wohl die Wurzel des späteren Pflanzennamens Pulmonaria sein, der so gewählt wurde, um auf die Wirksamkeit der so benannten Pflanze bei Lungenleiden hinzuweisen. Da allerdings viele unterschiedliche Pflanzen als Wirkstofflieferanten zur Behandlung von Husten, Atemwegserkrankungen, Asthma, Bronchialkatharr und Lungeninfektionen bekannt waren, bestand notwendigerweise die Gefahr, solche dann lateinisch nach dem Wort Lunge benannten Heilkräuter miteinander zu verwechseln, wenn man botanische Sammlungen anlegte oder systematisch Wirkstoffe zur Medikametenherstellung extrahieren wollte. Erst 200 Jahre nach Leonhart Fuchs´ens systematisierenden Anstrengungen gelang es dem Naturwissenschaftler Carl von Linné im Jahre 1758 mittels der in seinem Werk Sistema Naturae  implementierten "Binären Nomenklatur" eine zumindestens teilweise Lösung für das "einheitliche Tier- und Pflanzen-Benennungsproblem" zu erfinden, um so die wissenschaftlich exakte Beschreibung, Bestimmung und eindeutige Wiedererkennungsmöglichkeit für jedes einmal beschriebene Lebewesen zu garantieren. So wie jedem Mensch ein Vor- und ein Nachname zugeordnet wird um ihn aktentechnisch exakt zu katalogisieren praktiziert die Binäre Nomenklatur die Einteilung von Lebewesen in Familien, Gattungen und Arten mit weltweit eindeutig festgelegten Bestimmungsmerkmalen und Wirkungen. Pflanzen unterschiedlicher Gattungen, denen Heilwirkung bei Lungenleiden zugeschrieben wurden, konnten so nach dem wissenschaftlichen, lateinischen Gattungsnamen jeweils mit dem Artnamen-Zusatz "pulmonaria" versehen werden, was die Unverwechselbarkeit förderte und den Namens-Hinweis auf die medizinische Wirksamkeit präzisierte.

Das nun im Rahmen dieser Beschreibung bisher zu kurz gekommene Pflänzchen Pulmonaria officinalis (Echtes Lungenkraut) müsste demnach seit seiner ersten Benennung durch Carl von Linné im Jahre 1753 bereits als eine der wichtigsten oder gar die wichtigste Lieferantin für heilende Wirkstoffe bei Lungenerkrankungen betrachtet worden sein, denn sogar der Gattungsname weist auf die Lungenwirkstoff-Beziehung der Pflanze hin und auch der Artname-Zusatz offcinalis bestätigt eindeutig die Einstufung als "Offizinal-"Pflanze, was synonym für offiziell in Apotheken verwendbare Heilpflanze steht. Im spanischen Sprachraum soll die Ersterwähnung von Pulmonaria officinalis allerdings bereits auf das Jahr 1548 datieren, wobei dieser Angabe ein nicht exakt zitiertes Werk von Pietro Andrea Mattioli zu Grunde liegt, einem aus der italienischen Stadt Siena stammenden Arzt und Botaniker, der zahlreiche  Pflanzenarten beschrieb, welche Leonhart Fuchs noch unbekannt gewesen sein müssen. Möglicherweise wäre in diesem Zusammenhang die Frage zu klären, ob es sich bei der betreffenden Heilpflanze Mattiolis um P. officinalis oder P. saccharata handelt, die beide als "geflecktes" Lungenkraut bezeichnet werden und sich sehr ähnlich sehen.


Ziemlich unverwechselbar ist das Blatt von Pulmonaria officinalis durch seine Blattform mit gleichzeitiger Besprenkelung der Blattoberseite mit silbrig-hellen Farb-Tupfen, eine Charaktereigenschaft, welche der Pflanze den altdeutschen Namen "Unserer lieben Frauen Milchkraut" eingebracht hat


Im Botanischen Garten des CID Institutes wachsen und vermehren sich Echte Lungenkräuter seit Jahren beständig und dehnen ihre Siedlungsräume auf Habitate mit unterschiedlichen Standortbedingungen aus, wobei sowohl stark beschatteter, von Nadelstreu bedeckter und trockener Lehm-Boden als auch lockeres Humus-Erdreich an unbeschatteten Stellen von der Pflanze angenommen wird. Bei mehr Sonnenlicht und nährstoffhaltigem Boden entwickelt das Lungekraut hier einen kräftigeren Habitus und blüht früher und intensiver. Zur aktiven Vermehrung der Pflanze sind im Frühjar 2019 neue Pflanzanlagen mit aufbereitetem, lockerem Erdreich angelegt worden.


Pulmonaria officinalis unter Nadelbäumen 
 
Pulmonaria officinalis an sonnigem Standort
 
Pulmonaria officinalis in der neuen Vermehrungsanlage


Das geübte Auge des Pflanzenkenners würde auch ohne systematisch-botanische Vorkenntnisse sofort erkennen, dass es sich bei der betrachteten Pflanze um ein Kraut mit  starkem Wirkungspotential handeln muss, denn auf den ersten Blick hin ist die Ähnlichkeit der Blatt-Musterung mit der Zeichnung der Haut eines Reptils erkennbar bzw. imaginierbar, was das Lungenkraut in direkte Beziehung zur sich um den Äskulap-Stab windenden Schlange bringt. Reptil-Symbolik in Pflanzen und damit die Beziehung zur Gift & Dosis - Wirkung von Pflanzen-Inhaltsstoffen sind häufig Grundlagen für medizinale, botanische Charakteristiken. 



"Snake-Veil" - Typologie der Blätter von Pulmonaria officinalis


Was wirkt da nun wie aus der Pflanze, wenn man sie in ein Medikament verwandelt und gegen Erkrankungen der Atemwege einsetzen will ? Zuerst ist dabei zu betrachten, gegen welche der verschiedenen Arten von Lungenleiden Wirkstoffe aus Pulmonaria officinalis erfolgreich eingesetzt werden können. 

Leitsymptom aller Lungenerkrankungen ist der "Husten" ("Cough", "Toz", "Expuli Tussim", "Toux") ausgelöst durch "bakterielle" oder "virale" Infektionen, chemische Einflüsse, Tabakrauch, Reizgase oder Allergene. Begleitende Krankheitsbilder nennt man landläufig akute oder chronische Bronchitis, Lungenentzündung, Keuchhusten, Tuberkulose oder Asthma. Bakterielle Erkrankungen werden zumeist mit Antibiotika behandelt, wobei parallel Hustenreiz vermindernde Mittel (Antitussiva) oder Mittel zur Steigerung der Schleimproduktion und des Abhustens (Expectorantien) unterstützend gegeben werden. Da der Husten allerdings einen Schutzreflex des Körpers darstellt und somit zu den eigenen, reinigenden Selbstheilungskräften gehört, sollte er nur behandelt werden, wenn durch ihn weitere Gesundheitsbeeinträchtigungen (Schlafstörungen, Schmerzen) hervorgerufen werden. 

Hustenreiz wird durch pflanzliche Schleimstoff-Drogen vermindert. Pflanzenschleime überziehen den Racheninnenraum mit einer Schutzschicht der entzündete Schleimhäute überdeckt und äusserer Reizeinwirkung, die Husten-auslösend sein könnte, vermindert. Entsprechende Inhaltsstoffe enthalten Wurzeln des Echten Eibisch, Blüten von Malven und Königskerzen, Blätter von Huflattich und Spitzwegerich und die Flechte Isländisches Moos.

Zur Verminderung des Hustenreizes im neuronalen Steuerungsnetzwerk des Gehirnes wird Codein eingesetzt, ein Morphinderivat aus dem Schlafmohn Papaver somniferum.

Bei Husten mit zähflüssigem, an den Bronchialschleimhäuten festsitzendem Schleim, der durch den Hustenreiz nicht genügend "abgehustet" oder "ausgeworfen" wird, sind Pflanzendrogen aus der Gruppe der "Expectorantien" notwendig. Diese verflüssigen den Schleim und lockern ihn, so dass er durch den Hustenreiz ausgeworfen werden kann. Solche Wirkungen entfalten im Körper nach der gültigen Lehrmeinung Saponine und Ätherische Öle, welche nach Absorption die Abgabe von flüssigem Sekret in den Bronchien fördern und krampflösend, entzündungswidrig oder bakterienhemmend wirken.

Bekannte hustenwirksame Saponin-Drogen sind neben dem Echten Lungenkraut die Schlüsselblume, das Seifenkraut und die Senega-Kreuzblume. Ätherische Öle mit expectoranter Wirkung liefern Thymian, Kamille, Eukalyptus, Latschenkiefer, Anis und Alant. Andere expectorante Pflanzenwirkstoffe werden aus Efeu und Sonnentau gewonnen. 

Legt man die Angaben pharmazeutischer Pflanzenlexika zu Grunde, so sei der Saponin-Gehalt im Echten Lungenkraut allerdings relativ gering und könnten so die ebenfalls in der Pflanze nachgewiesenen Kohlenhydrate (Fructane & Schleim-Polysaccharide) möglicherweise eine wichtige Rolle bei der Suche nach den Wirkstoffen der expectoranten Heilmittelwirkung spielen.  



Inhaltsstoffe der Droge Pulmonariae herba nach dem Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen aus : Spektrum der Wissenschaft




Zur Drogen-Herstellung verwendet werden nach allen hier konsultierten Schriften jeweils nur die oberidischen Teile der Pflanze, also Blüten, Stengel und Blätter, wobei teilweise Rezepte für frische, kleingeschnittene Bestandteile blühender Pflanzen und andererseits aber auch die Verwendung von frisch geschnittenen und bei maximal 45 Grad getrockneten und zerkleinerten Pflanzenbestandteilen als Grundlage für Aufgussgetränke und Heiltees gegen Husten, Keuchhusten, Bronchitis, Halsschmerzen und Stimmlosigkeit beschrieben sind. 


Der abgekochte 10%ige Absud soll als desinfiziernde und entzündungshemmende Kompresse bei äusseren Wundbehandlungen wirksam sein.  



Als Dosierung des Heiltees (infusión) wird im spanischen Sprachraum "eine gute Handvoll Blätter", die über eine Viertelstunde gekocht werden, vorgeschlagen. Das Getränk soll in 4 Tassen-Portionen über einen Tag hinweg (also alle 4 1/2 Stunden 1 Tasse) getrunken die Lockerung, Verflüssigung und den Auswurf des Sputums fördern.

So zubereiteter Lungenkraut-Heiltee soll auch bei Diarrhoe und Harnwegs-Leiden Heilkraft entwickeln.

Es sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass von Seiten des CID Institutes keine eigenen praktischen Erfahrungen mit der Drogen-Anwendung existieren und das kontemporäre Medikamenten-Kommissionen, die mit der Überarbeitung der Empfehlungen für die Naturheilmittel-Zulassung und Anwendung beschäftigt sind, teilweise die heilende Wirksamkeit des Lungenkrautes in Zweifel ziehen. Dem gegenüber stehen jahrhundertelange Erfahrungen der Naturheilkunde und Naturmedizin. 

Eine Nutzung der auffälligen Pflanzen-Rhizome zur Wirkstoffextraktion wird in der hier konsultierten Literatur nicht erwähnt. Ob in diesen Bestandteilen der Wurzel von Pulmonaria officinalis medizinisch wirksame Inhaltsstoffe beinhaltet sind, ist aber mit Sicherheit bereits untersucht worden. 

Entomologische Beobachtungen im Botanischen Garten des CID Institutes belegen die hohe Attraktivität der Blüten des Echten Lungenkrautes für Hymenopteren, insbesondere Bombus- und Osmia-Arten, also Wildhummeln und tonnestbauende Wildbienen, die in den Monaten März bis Mai frühblühende Pflanzen besuchen.  



Acker-Hummel Bombus pascuorum an Pulmonaria officinalis 


Um so zum Fazit der hier präsentierten, teilweisen Betrachtung des Echten Lungenkrautes zu gelangen, so ist es aus der Sicht des Botanischen Gartens de CID Institutes zweifelsfrei eine wichtige Heilpflanze, die in keinem Individual-Hausgarten fehlen sollte, auch wenn sie nicht geerntet, zerschnipselt und in Form von Brühgetränken als Heilmittel konsumiert wird. Nach unserer Auffassung bildet der ortsfest lebende Mensch im Laufe der Zeit mit seiner unmittelbaren und beständigen Lebensumgebung und den dort vorkommenden Tier- und Pflanzenarten ein interaktives Beziehungs- und Wirkungs-System in welchem schon die pure Anwesenheit ebenso wie die Abwesenheit bestimmter Pflanzenarten eine langfristig heilende und stabilisierende Wirkung ausüben kann. Nach dieser Theorie ist die pure Existenz von Lungenkraut in der Umgebungs-Bepflanzung ein Faktor, der die psychologische Abwehrkraft und Resistenz eines Wohnortes stärkt und die Anfälligkeit für krankheitsauslösende Umgebungseinflüsse mindert, indem beispielsweise Lungenetzündungen auslösende Kälte-Energie-Wellen durch die Präsenz der spezifischen Abwehr-Pflanze psychologisch neutralisiert werden. 

Wer kennt nicht das Gefühl des plötzlichen Schauers einer unerwartet über den ganzen Körper ziehenden Kältewelle, die als initialer, auslösender Moment einer gerade eben einsetzenden Erkältungserkrankung empfunden und wahrgenommen wird, aber in ihrer Form kaum mit der körperinternen Einwirkung eines Bakteriums erklärbar ist. Erkältungen als Vorläuferinnen von Lungenentzündungen können ihre Auswirkungen erst entfalten, wenn die körpereigenen Abwehrkräfte ins Ungleichgewicht gekommen sind. Die Präsenz von Pulmonaria im Garten, stärkt aber unbewusst und tiefenpsychologisch die Abwehrkräfte des den Menschen direkt umgebenden Natursystemes und kann so in diesem grösseren Gesamtwirkungsgefüge Krankheitsinitiationen abwehren.







NATUR DES WEILTALES - DIE NATUR WEILMÜNSTER / Schriftenreihe DIE WILDPFLANZEN WEILMÜNSTERS